Die Tänzerin
Sie kam auf mich zu, als mein Leben gerade aus den Fugen geraten war. Ein Sprichwort sagt, das Leben ist ein langer Fluss, ich war gerade an den großen Stromschnellen angekommen.
Mein vierzigster Geburtstag lag hinter mir und auch mehrere Veränderungen in meinem Leben. Meine Berufsunfähigkeit, Einschnitte in meinem Leben und fremde Menschen forderten mich heraus. Es blieb keine Zeit der Vergangenheit nachzutrauern.
Eines Abends war sie da. Sie hatte ihren Besuch nicht angekündigt und doch lud sie mich zum Tanzen ein. „Nur einen Walzer“, bat sie mich freundlich. Sie umarmte mich und der Tanz begann. In rasenden Tempo drehten wir uns. Nebelschwaden flogen mir entgegen und raubten mir die Sicht. Sie aber hielt mich fest umfangen, führte mich, fast schwerelos. Bis plötzlich die Musik verstummte und ich aus der rasenden Pirouette heraus zu Boden viel.
Da lag ich nun, allein, meine Tänzerin war verschwunden.
Ein Albtraum? Nein, sie kam wieder, fast täglich tanzten wir, aus dem Walzer wurde ein Foxtrott, dann eine feurige Rumba oder mal ein Tango. Wir wurden vertrauter und ich erwartete sie, immer wenn die Nacht kam. Sie reiste mir nach in den Urlaub, fand mich überall, wie eine Stalkerin.
Ich suchte Hilfe, sie raubte mir die Lebenskraft. Ärzte kamen ins Spiel, ich fragte sie: „Wer ist diese Tänzerin?“, „Was will sie von mir?“ Alle suchten nach Antworten. Neurologen, Psychologen, Ohrenarzt, Augenarzt, Orthopäden und Homöopathen. Sie fanden ihre Spur und stellten sie, auf frischer Tat ertappt.
Sie gaben Ihr einen Namen, Morbus Vertigo.
Ich hatte schon einen anderen Namen für meine Tänzerin: Drehschwindelattacke. Jetzt ist sie eingeschüchtert, kommt nur noch selten. Sie weiß, dass ich gegen sie kämpfen kann und will. Doch niemals geht sie so ganz. Manchmal höre ich in der Ferne Musik, ist es wieder ein Walzer, ein Tango oder ein Foxtrott…?
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